Die erste Woche mit dem Nexus 4 ist vorbei, und die Eindrücke sind sehr gemischt. Vieles geht, diverses geht auch, aber sehr umständlich, und manches, das man von iOS als No-Brainer gewohnt ist, geht auch gar nicht. Dabei ist gerade das, was nur umständlicher geht, nicht mal unbedingt immer der Zugänglichkeit geschuldet, sondern häufig einfach allgemein der Benutzeroberfläche bestimmter Apps.

Ein paar Nachträge zu Teil 2 🔗

Zunächst möchte ich ein paar lose Fäden des letzten Teils noch einmal aufgreifen.

Zum einen schrieb ich über die Amazon-App, dass es in ihr im Gegensatz zur Android-Version keine Möglichkeit gäbe, nach Wunschzetteln anderer zu suchen. Dank der Findigkeit der Herzdame wurde diese Funktion letztendlich doch ausgegraben. Und hier zeigt sich das etwas umständlichere Handling mancher Apps zum ersten mal: Man geht ins Menü, das man wahlweise über einen Soft-Key auf seinem Androiden öffnet oder mit dem Button ganz unten rechts auf dem Nexus 4 und anderen Geräten, die keine Soft Keys haben. Dann wählt man Wunschzettel. Der aktuelle eigene Wunschzettel wird nun angezeigt. Jetzt tippt man unten links auf „Listen anzeigen“. Der unterste Eintrag in dieser Liste lautet „Wunschzettel von Freunden suchen“. Hier kann man nun Namen oder E-Mail-Adresse eingeben und bekommt dann bei Antippen des richtigen Namens die Wunschzettel derjenigen Person angezeigt. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass mit TalkBack der eigentlich schon in der Liste verfügbare Button „In den Warenkorb“ nicht immer zuverlässig funktioniert, sondern oft genug der Artikel selbst geöffnet wird. Auch nachdem man dann einen Artikel in den Warenkorb gelegt hat, wird man erst einmal mit einem Dialog konfrontiert, in dem man entweder zum Warenkorb gehen oder zum Artikel zurückkehren kann.

Zum Vergleich: Mit der iOS-App auf dem iPhone tippt man einfach unten auf den Reiter „Wunschzettel“, dann oben auf „Wunschzettel suchen“, gibt den Namen ein oder übernimmt einfach den zuletzt eingegebenen, und schon ist man in der Liste der Wunschzettel. Auch beim Legen in den Warenkorb besteht das Feedback lediglich aus einem kurzen Vibrieren und der Aktualisierung des Badges auf dem entsprechenden, immer sichtbaren, Reiter unten.

Weiterhin habe ich nach dem letzten Teil einige Entwickler auf ihre fehlenden contentDescription-Einträge für Image Buttons hingewiesen. Die Ausbeute an Antworten ist gemischt: myTaxi antworteten sofort und sagten mir, sie würden sich drum kümmern. Auch die Macher von Evernote antworteten zeitnah und werden dies in Kürze nachbessern. Für das gerade am 29.03. erschienene Sicherheitsupdate war die Zeit dann wohl aber doch zu knapp. 😉

Die Macher von Öffi, FahrInfo Hamburg, WhatsApp und Pakete haben sich hingegen noch gar nicht zurückgemeldet. Weitere Rückmeldungen gab es auch, die werden aber weiter unten in den entsprechenden Abschnitten erwähnt.

Push und Antwort 🔗

Etwas, das ich gleich am ersten Tag der Benutzung des Nexus 4 schmerzlich vermisste, war die Funktion, eine Push-Benachrichtigung direkt im Sperrbildschirm angezeigt zu bekommen und gleich darauf reagieren zu können. Auf dem iPhone ist dies eine sehr häufig von mir verwendete Arbeitsweise.

Glücklicherweise gibt es dafür eine App bzw. ein Widget namens Notification Lock Screen Widget. Die App ist kostenlos und erlaubt genau das, was ich brauche. Selbst die Apps, die in diesem Widget angezeigt werden, sind konfigurier- bzw. filterbar. Man kann ihm mitteilen, ob es bei Entsperren alle Einträge behalten oder löschen und auch während des entsperrten Zustands weitersammeln soll oder nicht. Als TalkBack-Anwender doppeltippt man eine Benachrichtigung und entsperrt das Telefon dann auf übliche Weise. Es wird danach die App geöffnet, so als hätte man die Benachrichtigung im entsprechenden Fenster angeklickt.

Einziger Haken: Die Installation als Widget für den Sperrbildschirm muss eine sehende Person bei ausgeschaltetem TalkBack machen.

Auch dieses Widget hat einige nicht beschriftete Image Buttons. Als ich den Autoren anschrieb und ihm kurz erklärte, wofür die contentDescription gut ist und ihn bat, dass er sie doch bitte hinzufügen möge, erhielt ich eine im positiven Sinne bemerkenswerte Antwort. Sinngemäß schrieb er: „Ich hatte ständig diese Warnungen über die fehlenden contentDescription-Einträge, habe sie aber immer ignoriert. Und TalkBack hielt ich immer für nutzlosen Krempel. Ich wusste ja gar nicht, dass das dafür da ist, dass Blinde Smartphones bedienen können! Die Buttons sind im nächsten Update beschriftet. Vielen Dank für den Hinweis! Gibt es solche Funktionen für Blinde auch bei anderen?“ Ich schrieb ihm daraufhin noch kurz über die Möglichkeiten, die iOS bietet und wo er für beide Plattformen weitere Hinweise findet. Das nenne ich mal eine tolle Reaktion! Ehrlich und absolut konstruktiv!

Ein Hinweis noch: Dieses Widget läuft erst ab Jelly Bean 4.2 richtig rund. Bei älteren Android-Versionen muss man ein paar Klimmzüge machen und Einschränkungen in kauf nehmen.

Mit der Bahn sicher ans Ziel 🔗

…dachte ich mir so und startete die App DB Navigator. Die beiden Eingabefelder zum Erfassen von Start und Ziel waren kein Problem. OK, die Buttons daneben waren unbeschriftet, aber das ist bei Android leider noch in vielen Fällen Standard. Dann kam ich zur Auswahl des Abfahrts- oder Ankunftszeitpunkts. Und hier gab es eine böse Überraschung. Man bekommt ein Dialogfeld angezeigt, dessen Fenstertitel dem aktuell eingestellten Datum und der Uhrzeit entspricht und zwei Buttons, nämlich „Abbrechen“ und „OK“. Dazwischen ist eine große, für TalkBack leere, Fläche. Tatsächlich befindet sich dort ein Einstellrad, das man durch hoch- und runterscrollen einstellt und somit den Wert des Fenstertitels ändert. Dass dies nicht kontrolliert möglich ist, dürfte jedem klar sein! 🙁 Hier gibt es also zur Zeit eine unüberwindbare Barriere. Ohne sehende Hilfe kommt man hier nicht weiter.

Dies ist unter iOS seit jeher ein No-Brainer. Die Datums- und Zeitauswahl funktioniert einfach, da es sich dort um Standard-Widgets handelt, Schieberegler, die mit VoiceOver problemlos bedienbar sind.

Als ich die Bahn auf Twitter darauf ansprach, kam innerhalb einer halben Stunde eine Antwort, dass man dies an die zuständige Entwicklungsabteilung weitergeleitet habe. Wie die Lösung letztendlich aussieht, weiß ich natürlich noch nicht. Ob man dieses Widget zugänglich macht oder bei eingeschaltetem Screen Reader vielleicht eine alternative Benutzeroberfläche in Form von individuellen Eingabefeldern anzeigt… Da ist einiges an kreativem Spielraum gegeben.

Da ich momentan keine tatsächliche Zugfahrt plane, konnte ich die App DB Tickets nur oberflächlich anschauen. Hier gibt es bisher keine unbeschrifteten Buttons, und die App sieht soweit zugänglich aus. Ob dies auch in der Ansicht des Reiseplans, der unter iOS wunderschön auch die Reservierung anzeigt, der Fall ist, muss sich im praktischen Einsatz zeigen, der sicher bald mal wieder kommen wird. Vielleicht kann ich ja bis dahin auch schon selbst den Abfahrtszeitpunkt bestimmen. 😉

Äääääääh, ööööööhm… 🔗

Ja, schön wär’s! Aber was eindeutig fehlt, sind Umlaute. Ja, sie sind auf der Android-Tastatur definitiv vorhanden, wenn man lange auf einen Buchstaben wie a, o oder u drückt. Aber nur, wenn man TalkBack nicht verwendet. Sobald TalkBack an ist, wird bei Heben eines Fingers von einer Taste sofort das Zeichen eingegeben. Man hat nicht, wie bei iOS üblich, die Möglichkeit, einen Buchstaben anzuvisieren, mit einem zweiten Finger irgendwo aufs Display zu tippen und die Tastatur so in einen speziellen Modus zu schalten, um dann zu doppeltippen und zu halten, um das Umlaute-Popup zu bedienen. Das alles funktioniert unter Android nicht. Weiterhin gibt es keine mit TalkBack kompatible Tastatur, die Umlaute gleich als Extra-Tasten mitliefert. Die Standard-Tastatur von Android kann es nicht, Swype, SwiftKey oder die „Deutsche Tastatur mit Umlauten“ aus dem Store sind nicht nutzbar. Die Fläche, wo sich die Tasten befinden, ist für TalkBack leer.

Im Moment bleibt einem also nur, sich auf die Autokorrektur zu verlassen und zu hoffen, dass sie die meisten Fälle abdeckt. Sonst schreiben wir wieder wie zu Zeiten der ersten amerikanischen IBM-Tastaturen mit oe, ae usw.

Klar, extern gekoppelte Bluetooth-Tastaturen gehen natürlich, aber die hat man ja nicht immer dabei.

Textauswahl, Copy & Paste 🔗

An alle Android-Enthusiasten, die gern darüber lästern, dass iOS bis zur Version 3.0 kein Copy & Paste konnte: TalkBack-User können dies bis heute nicht! Bzw. nur mit extern gekoppelter Tastatur. Eingebaut sind weder Textauswahl/-markierung noch Copy & Paste möglich. Selbst das Entmarkieren von gewähltem Text gestaltet sich schwierig, man muss erst mit einem schnellen Auf- und Abwärtsstreichen des Fingers die Cursorbewegung auf Wörter (nicht auf Zeichen!) umstellen und den Cursor dann bewegen, um vorher markierten Text loszuwerden. Auch sagt TalkBack einem nicht an, welcher Text markiert ist.

Dies ist also noch eine riesige Baustelle. Copy & Paste beherrscht VoiceOver seit iOS 3.1, also etwa 4-6 Wochen nach Erscheinen der Version von iOS 3.0, die Copy & Paste für alle eingeführt hat.

eBooks 🔗

eBooks sind seit drei Jahren, seit Erscheinen des ersten iPad, eine absolute Freude, wenn sie entweder aus dem iBook Store oder im ePub-Format auf iOS-Geräten gelesen werden. PDFs funktionieren längst nicht so gut, aber auch hier gibt es Fortschritte, sowohl in der Anzeige von iBooks als auch im Adobe Reader für iOS. Apple bietet für die Textdarstellung sogar ein eigenes Protokoll der UIAccessibility-Familie an, das Anwendungsentwickler implementieren können, um ihre Apps besser zugänglich zu machen.

Unter Android sieht die Realität leider viel weniger gut aus. Nicht nur, dass man im Google Play Book Store sogar gescannte PDFs, also solche, die nur aus reinen Bildern bestehen, kaufen kann, ohne vorher zu wissen, dass ein solches eBook hinter dem gewählten Produkt steckt, nein, sämtliche eBook-Reader gehen entweder gar nicht oder nur sehr sehr eingeschränkt. Selbst der Go Read von Bookshare, der als explizit zugänglicher eBook-Reader angepriesen wird, beschränkt sich lediglich darauf, zugängliche Buttons zur Navigation zu bieten. Die Darstellungsfläche des eBook selbst ist eine Blackbox für TalkBack, und sämtliche Textinhalte werden einfach direkt an die Sprachausgabe geschoben. Ähnlich wie bei von Menschen vorgelesenen Hörbüchern kann man hier also den Text konsumieren, sich aber z. B. Schreibweisen nicht näher angucken, keine Links verfolgen usw.

Im Gegensatz zu iOS steckt das Thema eBook unter Android also noch ganz tief in den Kinderschuhen. Es geht deutlich weniger als bei der allerersten Version von iBooks unter iOS 3.2.

Tweet, tweet, aber wie? 🔗

Diese Frage stellte ich mir natürlich ziemlich gleich zu Anfang, und sie wurde mir auch von meinen blinden Followern auf Twitter gestellt. Zunächst einmal ist die hauseigene Twitter-App seit kurzem weitgehend zugänglich. Weitgehend deshalb, weil z. B. das Aktivieren von Links in Tweets nicht geht. Man kann aber schreiben, die Timeline lesen usw.

Für höhere Ansprüche probierte ich sowohl Seesmic, das wegen seiner diversen unbeschrifteten Buttons und einiger anderer UI-Probleme für mich nicht in Frage kam. Bei Tweetcaster konnte ich mich gar nicht erst anmelden.

In der Eyes-Free Google Group (englisch) erhielt ich dann den Tipp, es mit Plume for Twitter zu versuchen. Dieser funktioniert tatsächlich deutlich besser, aber auch er hat noch an vielen Stellen unbeschriftete Buttons. So brauchte ich im Fenster zum Erstellen eines Tweets drei Versuche, bis ich den richtigen Button zum Senden gefunden hatte. Der befindet sich nämlich nicht, wie bei fast allen Social Networking Clients üblich, oben rechts, sondern unterhalb des Eingabefeldes irgendwo in der Mitte, ähnlich eines OK-Buttons eines Dialogfeldes. Allein die Tatsache, dass dies von der Eyes-Free Community als zugänglichster Twitter-Client angesehen wird, zeigt mir, dass die Ansprüche anscheinend deutlich auseinanderklaffen. Man begnügt sich häufig mit relativ wenig, was geht.

Allerdings muss man fairerweise sagen, dass der Client schon viele schöne Features hat, u. a. auch das Stummschalten beherrscht, Listen verwalten kann und vieles mehr. Ich werde auch hier die Entwickler anschreiben und hoffen, dass sie die fehlenden contentDescriptions bald nachreichen. Dann wäre ich sogar bereit, für die 4,41€ teure Premium-Version zu bezahlen.

Braille 🔗

Ja, es gibt inzwischen auch eine Brailleunterstützung für Android. Diese nennt sich BrailleBack und stammt ebenfalls vom Eyes-Free Project wie auch TalkBack. BrailleBack ist eine separat zu installierende Komponente. Man aktiviert es ähnlich wie TalkBack im Dialogfeld Einstellungen/Bedienungshilfen. Danach verpartnert man über die Bluetooth-Einstellungen seine kompatible Zeile, und sie wird automatisch von BrailleBack erkannt.

Soweit die Theorie. Die Praxis sieht so aus, dass meine in einer Suche gefundene Focus 14 Blue noch nicht unterstützt wird. BrailleBack stützt sich auf die Unterstützung von BRLTTY, einer Unix-Braillesoftware, und die hat die Unterstützung erst in der nächsten Release-Version drin. Daher konnte ich auch bisher die Qualität der Brailleausgabe, der Kurzschrift usw. nicht testen. Da sich BrailleBack aber, ähnlich wie NVDA und Orca, auf die Dienste der Open-Source-Bibliothek Liblouis stützt, dürfte sie mit diesen vergleichbar sein.

Tune in 🔗

Ja, TuneIn Radio ist eine App, die wirklich schön zu bedienen ist. Elemente sind beschriftet, Funktionen sind erreichbar, und die App läuft sehr flüssig. Ich empfehle allerdings die Pro-Version. Neulich wurde mir in der werbefinanzierten Version bei Aufruf meines Lieblingssenders glatt das Browser-Fenster mit einer Pornowerbung davorgeschoben. Fand ich nicht so prickelnd.

Fazit 🔗

Ein endgültiges Fazit kann es, denke ich, nach einer Woche noch nicht geben. Allerdings gibt es durchaus Tendenzen. Man merkt deutlich, dass die Zugänglichkeit von Android von einem viel akademischeren Standpunkt her kommt als die von Apple, die deutlich auf den Endanwender eingerichtet ist. Man gewinnt nach wie vor den Eindruck, bei Google geht es zunächst einmal darum: „Hauptsache es geht irgendwie.“ Jelly Bean hat viel dazugelernt, wenn man es mit Ice Cream Sandwich vergleicht, aber die API ist längst nicht so ausgereift und in vielen Details komplexer gestaltet als es die von Apple von Anfang an war. Gerade das Zugänglich machen von Custom Widgets wie dem Einstell-Rad im DB Navigator dürfte eine echte Herausforderung sein, im Gegensatz zu Apple, welches für den App-Entwickler viele Werkzeuge zur Verfügung stellt, um selbst so komplexe Anwendungen wie Karten oder die Kursverläufe in der Aktien-App zugänglich zu machen.

Ich werde das Nexus 4 noch mindestens eine weitere Woche testen. Es gibt noch einige Bereiche und Apps, die ich bisher noch nicht testen konnte, und die zu vergleichen mir definitiv noch wichtig ist. Stay tuned!