Das Gerangel um das Freihandelsabkommen mit Kanada, CETA, die gleichfalls stockenden Verhandlungen über das Abkommen mit den USA TTIP, und viele andere kleine und große Baustellen zeigen, dass die EU politisch so, wie sie ist, nicht mehr funktioniert. Sie braucht dringend eine Neuordnung und einen Paradigmenwechsel. Ein Kommentar.

Für mich als durchaus gebildeten politischen Laien ist das, was sich schon seit längerem sowohl in der Bundespolitik als auch auf europäischer Ebene abspielt, nur noch schwer erträglich. Da werden so offensichtliche Fehler gemacht, so viel am Bedarf und Willen der Menschen, die in Europa leben, vorbei regiert, dass ich mich manchmal frage, wie eine ganze Gruppe von hoch bezahlten Politiker*innen so kollektiv blind sein kann. Da werden Mitgliedsstaaten Sparauflagen gemacht, die der großen Mehrheit der Bevölkerung so dermaßen viel abverlangen, dass man sich fragt, wie sich diese Bevölkerung davon jemals wieder erholen soll. Da werden hinter verschlossenen Türen Handelsverträge ausgewürfelt, die die Schere zwischen Arm und Reich dies- wie jenseits des Atlantiks noch weiter vergrößern werden und somit weiterem sozialen Unfrieden Vorschub leisten. Und wenn dann mal Einblick von demokratisch legitimierten Abgeordneten gefordert wird, finden diese Einblicke unter Sicherheitsmaßnahmen statt, als wollte man an den Goldreserven knabbern.

Alles, was bis heute in Europa geschieht, geht zurück auf die Tage, als der Vorläufer der EU ehrlicherweise noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß. Die spätere Umbenennung in Europäische Gemeinschaft (EG) und noch später Europäische Union (EU) sind zuallererst Beschönigungen, die verschleiern sollten, dass das Projekt Europa zuvörderst knallharten Wirtschaftsinteressen gilt. Historisch bedingt mag es zunächst durchaus legitim gewesen sein, den Frieden Europas durch gemeinsam vergrößernden Wohlstand zu festigen. Aber das Projekt ist im Prinzip in diesem Modell verharrt, das sich seit den 1980er Jahren noch stärker am Deregulieren der „Märkte“ vergnügte, allgemein auch als Neoliberalismus bekannt. Aber auf der anderen Seite wurden immer mehr Verordnungen erlassen und Kompetenzen verlagert, ohne das alles auf eine neue Grundlage zu stellen. Der halbherzige Versuch einer Europäischen Verfassung war im Grunde nichts anderes als die Zementierung dieses Neoliberalismus mit ein paar noch halbherzigeren Schmankerln. Hier wurde definitiv eine Chance vertan, Europa einmal richtig neu zu machen. Indem man nämlich nicht nur wirtschaftliche Interessen im weitesten Sinne zu den Grundsätzen erklärt hätte, sondern die Solidargemeinschaft auf alle möglichen Bereiche ausgedehnt hätte.

Aber das passte natürlich nicht ins Bild. In Deutschland waren gerade die Hartz-IV-Gesetze verabschiedet worden, wahrscheinlich das am meisten sozialen Unfrieden stiftende Gesetzesmonstrum seit Ende des 2. Weltkrieges. Unter der Knechtschaft der „Märkte“ sollte die Bevölkerung entsolidarisiert und in einen permanenten Angstzustand versetzt werden. Und auch andere Länder begannen, den „Märkten“ alles unterzuordnen. Da passte es natürlich nicht, eine Verfassung für Europa zu kreieren, die sich zuvörderst so etwas wie „soziale Gerechtigkeit“ und „Solidargemeinschaft“ auf die Fahnen schrieb. Denn das ist schließlich der Graus eines jeden anständigen Kapitalisten.

Dass aber genau dieses Modell seit der Immobilien- und Finanzkrise 2008 ein Auslaufmodell ist, wollen die heute regierenden Babyboomer immer noch nicht begreifen. Da wird dem Wirtschaftswachstum einiger Länder alles andere untergeordnet. Die Folge sind z. B. eine Jugendarbeitslosigkeit von 50% in Spanien und andere „Kollateralschäden“, die man einfach nur durch noch mehr Sparen schon wieder in den Griff bekommt. Dass aber Wachstum nicht unendlich möglich ist, weiß man spätestens, seit 2000 die erste DotCom-Blase geplatzt ist. Das Universum dehnt sich vielleicht unendlich aus, Wirtschaftssysteme stecken immer in einer Blase, die irgendwann platzt wie ein übervoller Ballon. Genau das wird wahrscheinlich früher als später mit dem viel beschworenen Wirtschaftswachstum passieren. Erste Anzeichen dafür gibt es in China, und auch die europäische Immobilienblase wird sich nicht ewig weiter vollsaugen können.

In dieser Situation werden aber, weil die Verfassung ja bekanntlich nie zustande kam, durch immer mehr „Reformverträge“ immer kompliziertere Kompetenzgebilde geschaffen, die die EU weitgehend handlungsunfähig gemacht haben. Aber man meint ja, hinter verschlossenen Türen eben doch solche Verträge wie CETA und TTIP ausknobeln zu können, wird schon irgendwie klappen.

Nein, tut es eben nicht, wie jetzt eindrucksvoll am Widerstand Walloniens zu merken ist. Die Befugnisse, die die EU bräuchte, um CETA und TTIP überhaupt erfolgreich verhandeln zu können, sind nicht vorhanden. Die EU ist eben kein Staat, sondern nur ein Zusammenschluss von Einzelstaaten. Und eben diese Einzelstaaten berühren so viele Punkte der Vertragswerke so individuell, dass es berechtigte Vorbehalte gibt. Und da die EU sich die Legitimation eben holen muss, kann es passieren, dass diese verweigert wird.

Das ganze sähe anders aus, wäre die EU eben wirklich ein Rechtskörper mit entsprechender Legitimation. Das EU-Parlament müsste eben ein Parlament mit echter Entscheidungskompetenz in allen entsprechenden Fragen sein und nicht ein weitgehend zahnloser Tiger, dessen Gewicht im übertragenen Sinne kaum über die Repräsentationsfunktionen des deutschen Bundespräsidenten hinaus geht. Die EU müsste, um diese Verhandlungen wirklich legitimiert und handlungsfähig führen zu können, zu einem echten Bundesstaat reformiert werden, mit entsprechenden Rechten und Pflichten gegenüber der Gesellschaft als Ganzes, und nicht nur der Verpflichtung der „Märkte“ gegenüber mit einigen Schmankerln, die hauptsächlich Deko sind.

Gäbe es diesen europäischen Bundesstaat tatsächlich, und hätte Europa eine Verfassung, die diesen Namen auch wirklich verdient, gäbe es auch viele andere Probleme, die sich aus national bedingter Kleinstaaterei ergeben, nicht mehr. Es hätte schon früh im Rahmen der europäischen Integration, spätestens aber mit dem Aufkommen sehr schneller weltweiter Kommunikation, Anstrengungen geben müssen, die Idee von Nationalstaaten immer weiter abzubauen. Stattdessen denkt man heute darüber nach, auch in der Bundesregierung, Kompetenzen von der EU auf die Nationalstaaten zurück zu verlagern! Was für ein fatales Signal!

In einer Zeit, in der ein Herzspezialist aus Japan einen Patienten in Berlin operieren kann, ohne selbst anwesend sein zu müssen, ist es eigentlich völlig müßig, sich über Nationalstaaten überhaupt noch Gedanken zu machen. Der aktuellen Generation in politischer Verantwortung geht jedoch in diesen Bereichen oft schlicht die Kompetenz, spätestens aber die Vision ab, das überhaupt zu begreifen, geschweige denn eine Politik umzusetzen, die dem auch nur ansatzweise gerecht wird.

Ich befürchte, dass die Entscheidungen darüber, Europa tatsächlich zu einem Bundesstaat zu machen, und auch die Überführung der Gesellschaft Europas von einer kapitalistischen in eine postkapitalistische, erst in einer der aktuellen nachfolgenden Generation Politiker*innen möglich sein wird. Denn die Realität wird die verkrustete Politik schneller einnorden, als manche noch „Nationalstaat“ sagen können. In spätestens 20 bis 25 Jahren wird Arbeit, so wie wir sie heute noch kennen, für die Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr existieren und von Robotern und anderen digitalen Prozessen übernommen worden sein. Die Mehrheit der Bevölkerung Europas und anderer Länder wird ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen und sich freiwillig engagieren, die eigene Zeit und Arbeitskraft dort einsetzen, wo sie gebraucht wird, im Rahmen einer Solidargemeinschaft, in der wirtschaftlicher Erfolg und der nächste Kurssprung einer Aktie nichts mehr zählen werden. Aber damit diese Umformung gelingen kann, braucht es Menschen, die kompetent in aktuellen Entwicklungen sind, für die das Internet 25 Jahre nach Einführung in Deutschland kein Neuland mehr ist, und die nicht in wirtschaftlichen und nationalen Denkmustern der 1960er bis 1980er Jahre verankert sind.

Aber die ersten Voraussetzungen müssen jetzt geschaffen werden! Es darf nicht durch noch mehr Austeritätspolitik, durch noch mehr Fehlinvestition in ein Auslaufmodell wie den Kapitalismus Geld verschwendet und eine Politik des ewig gestrigen betrieben werden. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sich bei einem Zusammenbruch der schwelende soziale Konflikt endgültig entzündet und es nicht, wie von manchen Konservativen und vielen rechtspopulistischen Politiker*innen angestrebt wird, zu einem Rollback in die 1950er Jahre kommt, sondern die Folgen viel verheerender sein werden und Europa sich in einem Zustand von 1945 oder schlimmer wiederfinden könnte.

Es muss jetzt begonnen werden, an der wirklichen Zukunft Europas zu arbeiten, nicht an einer, die sich manche wenige Wirtschaftsbosse in rein spekulativen Szenarien ausmalen. Ein immer noch mögliches Scheitern von CETA und daraus folgendes Scheitern von TTIP könnten dazu die Initialzündung liefern. Ein „weiter so“ kann und darf es nicht geben! Und ich persönlich möchte in 20 Jahren lieber in einem Europa des Jahres 2036 leben als in einem, das dem Zustand im Jahr 1945 ähnelt!