Im Mai diesen Jahres erschien eine Version der App Amazon Kindle, die als Neuerung die Zugänglichkeit durch den Screen Reader VoiceOver unter iOS ankündigte. Kurz darauf fluteten Begeisterungsstürme durch die Blogosphäre und sozialen Netzwerke, und inzwischen wurde die App sogar in die AppleVis iOS App Hall of Fame aufgenommen. Zeit für einen kurzen deutschsprachigen Überblick, was einen blinden VoiceOver-Nutzer erwartet!

Die Situation bei E-Books bietet ja ein eher gemischtes Bild. Während Apple mit seinem iBooks Store und der zugehörigen App für iOS und demnächst auch OS X in Puncto Barrierefreiheit eine absolute Vorreiterstellung einnahm, denn iBooks war von Anfang an, also zum Erscheinen des ersten iPads im April 2010, zugänglich, sind viele E-Books anderer Quellen eher nicht zugänglich gewesen. Entweder handelte es sich um in der Regel nicht mit Barrierefreiheits-Tags ausgestattete PDFs oder um PDFs, die aus gescannten Buchseiten bestanden, oder die Apps oder Geräte zum Lesen solcher E-Books waren nicht zugänglich. Letzteres war bis jetzt bei Amazon Kindle der Fall. Die iOS-App für iPhone, iPod Touch und iPad ist die erste, die Kindle-Bücher für Blinde zugänglich macht. Andere Apps wie die für OS X, Windows oder Android, sowie die Kindle Paperwhite, Kindle Fire und wie die Hardware-Reader auch alle heißen, sind samt und sonders bisher nicht zugänglich.

Aber allein die Zugänglichkeit der iOS-App eröffnet Blinden auf einmal eine riesige neue Quelle an elektronisch zugänglicher Literatur. Wie bei iBooks sind auch Kindle-Bücher mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit zugänglich. Das Kindle-Format basiert auf strukturierten HTML-Dateien, die von einem Gerüst aus XML-Dateien und einer bestimmten Konvertierung zusammengeführt werden. Kindle-Bücher sind somit textbasiert. Klar gibt es theoretisch auch die Möglichkeit, Buchseiten zu scannen und als Grafiken zu hinterlegen, diese müssen aber per HTML zusammengeführt werden, was vom Aufwand her fast das gleiche ist wie den Text gleich richtig lesbar zu gestalten.

Hat man sich die App heruntergeladen, empfiehlt sich ein erster Start und eine Anmeldung am eigenen Amazon-Konto. Dies registriert das iOS-Gerät als neuen Kindle-Reader bei Amazon, so dass man beim Kauf von Büchern diese sofort an das iOS-Gerät schicken kann. Beim nächsten Aufruf der App oder dem Auswählen von „Synchronisieren“ werden neue gekaufte Bücher dann automatisch heruntergeladen und sind sofort verfügbar.

Der Kauf eines Kindle-Buches geschieht im Gegensatz zu iBooks übrigens nicht innerhalb der App, sondern muss über die Webseite vom Mac, PC oder iOS-Gerät getätigt werden. Amazon müsste Apple für jedes von innerhalb der App gekaufte Buch sonst nämlich eine Provision zahlen. Da es sich um ein Konkurrenzangebot handelt, ist es nur verständlich, dass Amazon das nicht möchte. 😉

Hat man nun ein oder mehrere Bücher gekauft und beim Kauf angegeben, dass die Datei bitte gleich an das passende iOS-Gerät gesendet wird, taucht es auf der Startseite der Kindle-App auf. Die Navigation geschieht durch übliche VoiceOver-Gesten. Man wählt ein Buch aus und führt einen Doppeltipp aus, um es zu öffnen. Die Startseite bietet weiterhin eine Möglichkeit, zwischen der in der Amazon Cloud gespeicherten Inhalte und denen, die bereits auf dem Gerät vorhanden sind, umzuschalten. Weiterhin kann man die Einstellungen aufrufen und von einer Listen- in eine Rasterdarstellung umschalten.

Hat man ein Buch geöffnet, wird die erste Seite angezeigt, wenn man das Buch noch nie geöffnet hatte, oder die zuletzt gelesene Seite, wenn man das Buch schon einmal geöffnet hatte. Der Text wird zeilenweise dargestellt. Man kann also mit dem Finger von oben nach unten fahren und so die Zeilen „abscannen“. Man kann auch mit zwei Fingern von oben nach unten streichen, und VoiceOver beginnt, vom oberen Bildschirmrand oder von der aktuell gewählten Zeile an vorzulesen. VoiceOver blättert automatisch Seiten um, so dass man theoretisch ein ganzes Buch in einem Vorgang durchlesen kann. Ähnlich wie bei iBooks gibt es auch hier eine kleine Verzögerung beim Umblättern der Seiten. Eine Einstellung, Text fortlaufend anzuzeigen, bietet die Kindle-App bisher nicht. Ein Tippen mit zwei Fingern stoppt den Vorlesevorgang. Mit drei Fingern nach links wischen bewirkt das Umblättern auf die nächste Seite, mit drei Fingern nach rechts wischen blättert eine Seite zurück.

Tippt man irgendwo im Text doppelt, öffnet sich das Menü zum Buch. Man kann nun natürlich ins Buch zurückkehren, aber auch zur Startseite gehen, durch den Punkt „Gehe zu“ verschiedene wichtige Punkte im Buch anspringen wie das Inhaltsverzeichnis, zum Anfang o. ä. Man kann Lesezeichen setzen oder zu ihnen gehen, man kann eine Suche im Buch durchführen oder die Seitenposition ändern. Im Gegensatz zu iBooks rechnet Kindle jedoch nicht in virtuellen Buchseiten, sondern in Prozent des bereits gelesenen Inhalts.

Interessant sind auch die Anzeigeoptionen, vor allem für Sehbehinderte, die zusätzlich zur Sprachausgabe vielleicht noch die Augen zum Mitlesen verwenden möchten. Nicht nur Farbthemen wie „weiß“ und „schwarz“ können hier eingestellt werden, sondern auch Helligkeit, Schriftgröße, Zeilenabstand, Breite des Seitenrandes usw.

Eine weitere interessante Möglichkeit der App ist es, Text zu kopieren, um ihn z. B. als Zitat in einem Dokument einzufügen, oder Wörter in einem Wörterbuch nachzuschlagen. Auch diese Funktionen sind mit VoiceOver komplett zugänglich. Um Text zu markieren, geht man wie folgt vor:

  1. Mit Hilfe des Fahrens über die Seite und des Rotors den Beginn des zu markierenden Textes einstellen. Hierbei werden die Rotorfunktionen zum Navigieren per Zeichen, Wörtern und Zeilen vollständig unterstützt.
  2. Nun doppeltippen und halten, bis eine aufsteigende Tonfolge erklingt und das Menü zum Markieren und Nachschlagen erscheint. Hier kann man nun wählen, in welcher Farbe die Markierung geschehen soll. oder auch die Auswahl verändern. Das aktuell unter dem Cursor befindliche Wort wird automatisch markiert.
  3. Man wählt nun den Schalter für Auswahlrand ganz links oder Auswahlrand ganz rechts, doppeltippt und hält erneut, bis eine aufsteigende Tonfolge erklingt, und bewegt den Finger nun langsam nach links oder rechts. Je nach eingestellter Rotoreinstellung wird nun zeichen-, wort- oder zeilenweise markiert. Es wird nach kurzer Verzögerung jeweils der aktuell markierte Text gesprochen. Hat man den gewünschten Text markiert, hebt man den Finger wieder an.
  4. Nun kann man erneut wählen, in welcher Farbe der Text markiert werden soll. Man kann für die Textstelle auch eine Notiz erstellen. Ist ein Wörterbuch heruntergeladen, wird für ein einzelnes markiertes Wort die Definition angezeigt. Man kann den Text auch auf Twitter oder Facebook teilen oder ihn bei Google oder Wikipedia suchen.

Im Gegensatz zur sonst unter iOS üblichen Art des Markierens von Text durch das Auseinanderziehen zweier Finger im Bearbeiten-Modus „Auswählen“ geschieht die Auswahl hier also durch das Verschieben des linken oder rechten Randes der Textmarkierung mittels zweier getrennter Steuerelemente. Ich persönlich finde diese Art der Textauswahl sehr gelungen, da sie eine genauere Textauswahl ermöglicht als die sonst üblichen Gesten. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde die Textauswahl unter iOS mit VoiceOver eine der wenigen nicht gelungenen, weil umständlichen, Funktionen.

Man kann in die Kindle-App übrigens auch Inhalte aus anderen Quellen lesen. Amazon bietet jedem Kindle-Benutzer 5 Gigabyte Cloudspeicher für „persönliche Dokumente“. Jedes iOS-Gerät und jeder andere Kindle-Reader bekommt hierfür eine eigene kindle.com-E-Mail-Adresse zugewiesen, an die man Dokumente im .mobi-Format oder im Amazon Kindle Format schicken kann. So können auch E-Books aus anderen Shops, die man dort im Mobi-Format erwerben kann, in der Kindle-App gelesen werden, ähnlich wie dies bei ePub-Dateien mit iBooks möglich ist.

Interessant sind auch die Angebote abonnierbarer Zeitungen und Zeitschriften. Die zeit, die Süddeutsche und viele andere Zeitungen können über Amazon abonniert werden und werden dann sofort bei Erscheinen an das Gerät gesendet. Im Gegensatz zum Zeitungskiosk von iOS kann man hier sehr sicher sein, tatsächlich auch eine vernünftige Kindle-Datei zu bekommen und nicht ein PDF-Gekleister. Auch werden alle Zeitungen in derselben App gelesen, man muss sich also nicht für jeden Inhalt wieder auf eine andere Zeitungskiosk-App einstellen.

Ich hoffe, mit diesem Überblick vielleicht dem einen oder anderen Leser eine kleine Hilfestellung gegeben zu haben, wie man das meiste aus der Kindle-App für iOS als VoiceOver-Nutzer herausholen kann. Ich persönlich freue mich jedenfalls sehr über diese Erweiterung des E-Book-Marktes für blinde Menschen!