Der Oktober steht ganz im Zeichen der Wahrnehmung blinder Menschen und ihrer Anliegen und Lebensweisen. Der bisher hauptsächlich im englischen Sprachraum bekannte Blindness Awareness Month sollte uns auch hierzulande Gelegenheit sein, über uns zu berichten. Und zwar von uns selbst. Ich starte hiermit also eine kleine Beitragsserie rund um die Themen, die speziell mich als blinden Menschen bewegen.

Manche mögen jetzt einwenden, dass mein Blog doch ohnehin einen starken Fokus darauf hat. Das stimmt zwar – und wird sich auch zukünftig nicht ändern -, aber in diesen Beiträgen geht es ganz speziell um Dinge, die eben nicht Mainstream sind, anders als z. B. Apple-Geräte, über die ich ja sonst viel schreibe.

Beginnen möchte ich mit einem Thema, das mich auf diesem Blog auch früher schon sehr bewegt hat. Und zwar geht es um die Schrift blinder Menschen. Das System, das sich bis heute am weitesten weltweit verbreitet hat, ist die Brailleschrift. Sie wurde 1825 von dem damals 16-jährigen Louis Braille in Frankreich ersonnen und war, ohne Übertreibung, der Gutenberg-Moment blinder Menschen. Ähnlich wie die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg einige Jahrhunderte zuvor erschloss dieses System fühlbarer Schriftzeichen endlich einem sehr großen Teil blinder Menschen eine echte internationale Schriftsprache. Braille war eine Schrift, die einfach genug herzustellen war, dass sich mit ihr Bücher in annehmbarem Umfang drucken und im Laufe der Zeit mithilfe von Sticheltafeln und Blindenschriftmaschinen auch eigener Schriftverkehr realisieren ließen.

Bis zu diesem Zeitpunkt gab es zwar schon viele Versuche, diese scheiterten jedoch an zu großer Komplexität, entweder bei der Vermittlung oder bei der Herstellung druckbare Materials. Und keine Schrift taugt etwas, wenn sie sich nicht leicht herstellen und verbreiten lässt.

Die Brailleschrift besteht in ihrer Grundform aus sechs Punkten. Diese sind in zwei senkrechten Reihen zu je drei Punkten nebeneinander angeordnet, ähnlich wie eine hochkant stehende 6 auf einem Würfel. Die Punkte sind so nummeriert: Die Punkte der linken Reihe sind von oben nach unten 1, 2 und 3. Die Punkte der rechten Reihe sind von oben nach unten die Punkte 4, 5 und 6. Durch das Setzen oder Nicht-Setzen verschiedener Punkte sind inklusive Leer- und Voll-Zeichen (alle Punkte gesetzt) 64 Kombinationen möglich. Diese reichen für sehr viele Sprachen aus, um die Grundformen der Buchstaben, Sonderzeichen wie z. B. Deutsche Umlaute oder französische, italienische oder spanische Buchstaben mit Akzentzeichen, Interpunktion und andere Zeichen darzustellen.

In den 1980er-Jahren wurde das System um die Punkte 7 (unterhalb von Punkt 3) und 8 (unterhalb von Punkt 6) erweitert, um alle 256 Zeichen des ASCII-Zeichensatzes 1: 1 abbilden zu können, um den Zugang zu Computern zu ermöglichen. Dieser Zugang erschloss vielen blinden Menschen ganz neue Berufsfelder wie Programmierer, Datenverarbeitungskaufleute und andere. Auch wurde dank softwaregestützter Übersetzung von Texten die Herstellung von Blindenschriftmaterialien und -Büchern deutlich einfacher.

Da trotz ihres bereits platzsparenden Charakters Bücher in Blindenschrift immer noch viel mehr Platz einnehmen als Bücher für Sehende, ersannen die verschiedenen Länder oder Ländergruppen im Laufe der letzten 120 Jahre Systeme zur verkürzten Darstellung vieler Wörter. So benötigt ein Text in deutscher Kurzschrift etwa ein Drittel weniger Platz als derselbe Text in Vollschrift. Im deutschsprachigen Raum ist für die Standardisierung der Blindenschrift das Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder zuständig. In ihm sind Organisationen der Blindenselbsthilfe sowie pädagogischer Institutionen und einiger Bibliotheken im deutschsprachigen Raum zusammengeschlossen. Das BSKDL gibt das offizielle Regelwerk für die Basis-, Voll- und Kurzschrift heraus und passt dieses ggf. An neuere sprachliche und technische Entwicklungen an. Die letzte Anpassung erfolgte 2015 und gilt seit dem 1. Januar 2018.

Texte in Blindenkurzschrift sind viel schneller lesbar, da der Finger wesentlich weniger Zeit braucht, ein Wort zu erfassen. Das Gehirn erledigt den Rest der Interpretation und Übersetzung viel schneller, als das Lesen jedes einzelnen Zeichens desselben Wortes in Vollschrift oder Computer-Braille erfassen könnte. Die Übersetzung in Kurzschrift ist zum Glück seit Längerem nicht mehr nur gedruckten Büchern oder selbst geschriebenen Texten auf Papier vorbehalten, sondern auch Bestandteil vieler Softwarekomponenten. So steht die Darstellung in Kurzschrift auch auf Braillezeilen zur Verfügung, die von Computern oder Smartphones oder Tablets angesteuert und mit Daten versorgt werden. So wird jeder Text, den ein Screen Reader erfassen kann, dank quelloffener Software wie dem Projekt Liblouis in Computer-Braille, Voll- und Kurzschrift zugänglich. Jedes E-Book kann so auch in Kurzschrift gelesen werden.

Aber auch Software zur Umwandlung von ganzen Dateien in Blindenschrift gibt es. Einige prominente Vertreter sind der Hypertext-Compiler von Wolfgang Hubert (RTFC) und das Hagener Braille-Software-System (HBS) der Fern-Universität Hagen. Mit diesen Programmen lassen sich Dateien so umwandeln, dass sie entweder mit einem Blindenschrift-Drucker ausgedruckt oder zum Lesen auf ein Braille-Lesegerät übertragen werden können. So kann man heutzutage auch Braille-Bücher bequem mitnehmen, ohne gleich ganze Schrankkoffer hinter sich herziehen zu müssen.

Braille ist meiner Meinung nach für die Bildung sowohl von blinden Kindern als auch Erwachsenen, die z. B. Späterblindet sind, unerlässlich. Schrift transportiert Information nachweislich anders ins Gehirn als gesprochene Worte, egal ob sie von einer Person vorgelesen werden oder einem Screen-Reader. Nur gelesene Schrift ist meiner Meinung nach in der Lage, Rechtschreibung, Nuancen von Sprache und Satzbau, und andere zum Verständnis essenzielle Dinge jeder Sprache so zu transportieren, dass sie wirklich verinnerlicht werden.

Ich selbst habe als Kind in der Grundschule Blindenschrift gelernt, hatte selbst da aber durch eigene Initiative bereits etwas Vorbildung, weil ich schon davor Zugang zu ersten Braille-Büchern hatte. Ich habe schon in der 1. und 2. Klasse ganze Kinderbücher gelesen. Später war ich dann Stammkunde der Stiftung Centralbibliothek in Hamburg und der Blinden-Bücherei in Marburg, sehr zum Leidwesen der Paketboten sowohl im Internat in Hamburg als auch am Ort meines Elternhauses in Dannenberg. Über eine Verbindung, die sich heute nicht mehr nachvollziehen lässt, habe ich einiges an Büchern aus dem Blindenschrift-Verlag „Pauline von Mallinckrodt“ in Paderborn (heute Bonn) geschenkt bekommen oder vom eigenen Taschengeld gekauft. Dabei konzentrierte ich mich allerdings immer auf die nicht-religiöse Belletristik und Jugendliteratur aus deren Bestand, weil ich nicht besonders religiös erzogen wurde und immer eher weltlichen Dingen zugetan war. ;-) Aber egal aus welcher Quelle die Bücher auch stammten, sie sorgten alle dafür, dass ich schon sehr früh eine gefestigte Rechtschreibung hatte und auch in der Kurzschrift sehr bald sehr bewandert war. Ich lernte auch schon früher als es die Lehrbücher vorsahen, die englische Kurzschrift. Ich lernte sie spielerisch anhand zweier spannender Jugendbücher.

Und dies ist meiner Meinung nach ein wichtiger Punktpunkt beim Erlernen der Blindenschrift. Egal in welchem Alter jemand ist, man sollte sich immer etwas suchen, was man lesen möchte, was Spaß macht und nicht nur ein Lehrbuch mit teilweise haarsträubend stupiden Texten ist. Klar sind diese wichtig zum Erlernen der Grundregeln, aber die Festigung dessen, was man gelernt hat, kommt tatsächlich erst beim Lesen von Texten, die einem Spaß machen. Und dabei kommt die Festigung und Verinnerlichung der Regeln, Kürzungen und anderer Nuancen dann praktisch von ganz allein.

Also: Egal in welchem Alter ihr seid, ob ihr schon von Geburt an blind seid oder gerade erst z. B. im Erwachsenenalter erblindet: Wenn eure Finger es können, erlernt die Blindenschrift oder frischt sie auf, wenn ihr sie länger nicht benutzt haben solltet. Ich halte sie für einen immens wichtigen Bestandteil des täglichen Umgangs mit der eigenen Sprache und auch der Lieblings-Fremdsprache.

Übrigens habe ich auch festgestellt, dass Dinge, die ich selbst mit fast 50 noch neu lernen möchte, am besten über Blindenschrift bei mir hängen bleiben. Ich beginne gerade, mich mit Esperanto zu beschäftigen. Kein Screen Reader, kein Video kann mir diese Sprache so sehr näher bringen wie der Finger, der die Details über eine Braillezeile oder vielleicht zukünftig auch Papier erfasst.

Wie mein Arbeitsablauf zur Brailleübersetzung aufgebaut ist, was ich so an Hilfsmitteln benutze und welcher mein Lieblings-Braillezeilenhersteller ist und warum, wird Bestandteil zukünftiger Artikel in dieser kleinen Serie sein. Seid gespannt! Braille ist ein Thema, das mir wirklich sehr am Herzen liegt, und ich hoffe, etwas davon mit euch teilen zu können.